Peter Pechmann
Es gab mal eine Zeit, da konnte man häufig von lustigen Experimenten hören, frei nach dem Motto: „Wie viele Studenten passen in einen VW-Käfer?“, oder in eine Ente. Wobei zwar die Fenster geöffnet, alle Türen aber geschlossen und dann noch 100 Meter selbständig gefahren werden musste, mit Links- und Rechtskurve und ordnungsgemäß blinken und so. Inzwischen sind derartige Abenteuer selten geworden, obwohl es sicherlich amüsant wäre, 7 oder vielleicht sogar 15 Personen in einem Smart zu sehen. Oder im Twingo.
Aber das Amüsement wäre hauptsächlich aufseiten der Zuschauer, für die beteiligten Studenten ist solch eine Aktion eine ziemlich bedauernswerte Angelegenheit. Und weil heute die Fahrzeughersteller andere Methoden der Festigkeitsprüfung haben (und vielleicht auch, weil sich unser Humor inzwischen etwas geändert hat), sieht man von solchen Torturen mittlerweile ab und erkennt sie als das an, was sie tatsächlich sind bzw. waren: Rituale einer frühen Phase der Automobilisierung, sozusagen die spielerisch-kämpferische Aneignung des Automobils.
In der Tat bedarf es mitunter schmerzhafter Erfahrungen, um zu erkennen, wann ein Korb zu voll, eine Situation zu überladen ist, denn die Vorstellung „je mehr, desto besser“ scheint im Menschen tief veranlagt zu sein. Trotzdem ist es so: Ein PKW erfüllt seinen Zweck am Besten mit der dafür zugelassenen Passagierzahl. Ein oder zwei mehr mögen gerade noch so gehen, aber es gibt ein Optimum, und alles, was danach kommt, macht die ganze Angelegenheit nur mühsamer und gefährlich. Bis zu dem Punkt, wo man zu Fuß besser vorwärts kommt als im überfüllten und gänzlich unbeweglich gewordenen Fahrzeug, das dann außerdem keines mehr ist.
In der Kommunalpolitik gibt es ein ganz ähnliches Problem. Es dreht sich um die Frage: „Wie viele Gewerbegebiete passen in eine Kommune?“ Die erste Vermutung lautet: Je mehr, desto besser, denn Gewerbegebiete bringen Gewerbesteuern (falls die Gewerbetreibenden vor Ort ansässig sind), sie bringen Arbeitsplätze (wenn auch meistens andere dafür verloren gehen), und diese Arbeitsplätze wiederum bringen Konsum (wenn die Arbeitenden vor Ort einkaufen) und anteilige Einkommenssteuer (wenn sie vor Ort wohnen).
Aber wie immer und überall im Leben gibt es Kehrseiten. Die Arbeitswelt ist keine schöne Welt, jedenfalls keine, wo man gerne wohnen möchte. Lärm, Dreck und Gestank, und nicht zuletzt der Anblick von auf Leistung getrimmter Architektur und Infrastruktur reizen sehr dazu, einen gewissen räumlichen Abstand zwischen Arbeits- und Feierabendwelt herzustellen. Oder anders gesagt: Es mögen vielleicht ganz schön viele Gewerbegebiete in eine Kommune passen, aber der Zweck der Aktion wird irgendwann trotzdem verfehlt, wenn dadurch der Anreiz, in ebendieser Kommune seine Freizeit zu verbringen und zu wohnen – also sein dort verdientes Geld auch dort wieder auszugeben – rapide abnimmt. Um bei dem obigen Beispiel zu bleiben: Für das Fortkommen in einem Auto gibt es eine optimale Insassenzahl, danach wird’s schwierig. Für das Fortkommen einer Kommune gilt das, was Gewerbegebiete angeht, anscheinend genauso!
Natürlich gibt es einen konkreten Anlass, sich mit solchen doch eher theoretischen Gedanken zu befassen: Die Kommune Bissendorf östlich von Osnabrück will im Ortsteil Natbergen ein Industriegebiet von ca. 33 ha. Fläche ausweisen. Und das, obwohl die Kommune Bissendorf in den letzten Jahren so viele Gewerbeflächen ausgewiesen hat, wie in ihrer gesamten 850-jährigen Geschichte nicht. Und dabei ganz ohne Not. Denn die Kommune steht wirtschaftlich gar nicht schlecht da. Die Arbeitslosigkeit war im Jahr 2008 mit 3,6% eine der geringsten im Landkreis Osnabrück, die Gewerbesteuereinnahmen stiegen auf einen „noch nie da gewesenen Höchstwert von über 5 Mio. Euro an“ und der Haushalt 2008 wird „aller Voraussicht nach mit einem beachtlichen strukturellen Haushaltsüberschuss abschließen“[1] Wozu also dieses unübersichtliche und immer mehr zunehmende Gewerbegedrängel in der Kommune?
Nicht nur der unbefangene Betrachter kratzt sich erstaunt am Kopf, auch in der Kommunalverwaltung selbst scheint man etwas überrascht davon zu sein, dass immer mehr Gewerbegebiete erstaunlicherweise nicht automatisch immer mehr Wohlbefinden in der Kommune nach sich ziehen. So wird z.B. mit großem planerischem Aufwand nach dem in den letzten Jahren abhanden geratenen Ortskern Bissendorf gesucht. Während also an der Peripherie Gewerbegebiete ohne Ende entstehen, die mit ihrem Konkurrenzdruck den Ortskern ausdünnen, wird mit mehreren Imagekampagnen für die „Heimat“ Bissendorf gegengesteuert. Dass dieses überhaupt nötig ist, zeigt, dass es da gewisse Defizite gibt, und dass es erstaunlich viele Anwohner wie auch Gewerbetreibende gibt, die weder in einem künstlichen Gewerbegebiet, noch in einem leergeräumten Ortskern wohnen und/oder arbeiten möchten. Die Kommune Bissendorf macht also zurzeit die fast lehrbuchhafte Entwicklung durch, wie durch große Gewerbeansiedlungen an der Peripherie der Ortskern selbst und damit auch der größte Teil einer regionalen Identität aufgelöst werden. Und mit dem Verlust einer solchen Identität verbunden wächst die Bereitschaft, ebendiese Region zu verlassen, weil nichts mehr da ist, was einen hält. Auch die – sagen wir mal: zögerliche – Informationspolitik der Kommunalverwaltung stützt die These, dass sie nicht unbedingt frohen Herzens, sondern eher mit einem skeptischen Blick auf mögliche Reaktionen der Bevölkerung agiert.
Um noch einmal unser Beispiel zu strapazieren: selbst die Kommunalverwaltung, die doch für die massenhaften Gewerbeansiedlungen verantwortlich ist, beginnt anscheinend zu erahnen, dass das zulässige Gesamtgewicht des Fahrzeugs „Bissendorf“ allmählich erreicht ist, und dass das Fahrgestell weitere Belastungen nicht mehr verträgt. Doch anstatt keine weiteren Personen mehr zusteigen zu lassen, macht die Kommune das Gegenteil und holt mit dem erwähnten Industriegebiet Natbergen noch einen besonders dicken Passagier an Bord, pumpt aber gleichzeitig die Reifen bis zum Anschlag auf, damit das Fahrzeug nicht ganz so sehr über den Boden schleift.
Es ist natürlich möglich, zu spekulieren, ob eine solche Überlastung sich nicht doch noch lohnt. Zumindest finanziell kann man sich fragen, ob sich ein Verlust an Attraktivität für die Einwohner durch verstärkte Gewerbesteuereinnahmen relativiert. Das ist aber erstens ein Birnen-und-Äpfel-Vergleich und zweitens ein bisschen makaber. Denn dann geht man sozusagen über Leichen. Dann geht es nicht mehr um das Wohlbefinden der Einwohner, sondern um deren Belastbarkeit. Dann stehen nicht die Bewohner, sondern die Gewerbegebiete im Vordergrund und die Frage lautet dann nicht mehr: „Wie viele Gewerbegebiete passen in eine Kommune?“, sondern: „Wie viele Einwohner verträgt ein Gewerbegebiet?“
Unsere kleine Untersuchung hat also ergeben, dass die massierte Ansiedlung von Gewerbegebieten in einer Kommune im Kern eine Spekulation mit der Leidensfähigkeit der Bevölkerung ist. Und schon wieder ergibt sich eine erstaunliche Parallelität zu unserem Beispiel mit den in einem VW-Käfer eingequetschten Studenten, bei denen ja auch Nehmerqualitäten sehr gefragt sind. Es bleibt allerdings die Frage, ob man diese Parallelität dann nicht doch zu sehr beansprucht, wenn man auch die Schlussfolgerung, dass es sich um eine längst überholte Aneignungsstrategie mit antikem Humor handelt, auf diese Art der Kommunalpolitik überträgt.
Ganz auf der Höhe scheint diese Kommunalpolitik aber in der Tat nicht zu sein, denn sie blendet aktuelle Fragen weitgehend aus. Neben dem oben beschriebenen Aspekt der Belastbarkeit ist das vor allem auch der Bereich, den wir mal Zukunftsfähigkeit nennen wollen. Das heißt: Wenn eine Kommune schon unbedingt eine starke Belastung ihrer Bevölkerung in Kauf und viele Gewerbegebiete ansiedeln will, dann sollte sie doch zumindest bestrebt sein, sich möglichst diejenigen Gewerbe auszusuchen, die in absehbarer Zukunft keine größeren Probleme bekommen und/oder verursachen werden, damit man sich keine zukünftigen Altlasten oder Leerstände einhandelt. Sonst lohnt sich doch der ganze Aufwand überhaupt nicht und man hat eine verärgerte Bevölkerung am Hals und die verwüsteten Flächen mitsamt Erschließungskosten noch dazu. Eine Großspedition, wie sie im Ortsteil Natbergen geplant ist, gehört sicherlich nicht zu den Gewerben, denen eine güldene Zukunft bevor steht. Im Gegenteil, Transporte kosten Energie, mit der in Zukunft sorgfältiger als bislang umgegangen werden muss. Das heißt: Transporte werden teurer und damit werden sie nach den Gesetzen der Marktwirtschaft auch seltener. Das bedeutet wiederum: Es ist davon auszugehen, dass dieser Markt schrumpft, es sei denn, dass äußere Kräfte, z.B. die Politik eingreifen und gegensteuern. Leider ist aber genau das Gegenteil der Fall: Politiker auf allen Ebenen, allen voran der Bundesverkehrsminister, betonen, den LKW-Verkehr reduzieren und den Güter-, zumindest den Güterferntransport vermehrt auf die Bahn umlenken zu wollen. Selbst wenn man das als „Politikersprech“ abtut, bleibt es dabei, dass die Branche bei voraussichtlich sinkenden Aufträgen in Zukunft noch zusätzlich eine zumindest verbale Priorität für den Bahntransport überwinden muss. Als Ausweg aus diesem Dilemma wäre immerhin eine regionale Umverteilungsstation für Bahngüter denkbar, aber das geplante Industriegebiet in Natbergen hat ja nicht einmal das Feigenblatt eines Bahnanschlusses. Es würde sich also um eine große Anlage handeln, deren Zweck sich im Widerspruch zur Marktentwicklung und außerdem noch im Gegensatz zu politischen Aussagen befindet. Da bleibt die spannende Frage, wer stärker ist, das Speditionsgewerbe oder die Politik. Und wenn man jetzt wieder einmal an die Studenten im Käfer denkt, lässt sich auch die Idee an rituelle Auseinandersetzungen irgendwie nicht mehr so einfach abweisen.
Guido Halfter (Bürgermeister von Bissendorf): Grußwort zum Jahreswechsel. In: Bissendorfer Blickpunkt Nr.105 vom Dezember 2008, S. 11
Bürgerinitiative Schönes Natbergen
Sprecher: Martin Becker
Lüstringer Str. 35A
49143 Bissendorf-Natbergen